6. Dezember 2006 -Tag Null- Eine Idee wird geboren

An diesem Tag hatte ich, ebenso wie die letzten Tage und Wochen, eigentlich nichts zu tun. Mein Studium war seit längerer Zeit abgeschlossen und ich wartete - und wartete - und wartete darauf, von einem Professor die Zusage zu bekommen, eine Doktorarbeit bei ihm machen zu können.

Auf die Dauer nichts tun, erzeugt auf die Dauer ein Unwohlsein und ich wusste: irgend etwas muss passieren. Da ich merkte, dass mir zu Hause die Decke immer näher kam, beschloss ich einfach raus zu gehen um mich abzulenken. Ich ging los, mehr oder weniger ziellos und stand plötzlich vor einem ziemlich schrägem Ladenlokal.
Ein schmales Handtuch von vielleicht 3 Meter Breite, trashige Deko im Schaufenster und überall blinkte es. Auf der Strasse vor der dem Laden standen eine Vielzahl mit orangefarbigem Klebeband umwickelte Fahrräder, eines schrottiger als das andere.


Ich schaute durch die Schmale Tür hinein, drinnen war alles vollgeräumt mit verschiedenstem Gerümpel oder Werkstücken. Es stand Galerie dran, nun gut, ich war neugierig und trat das erste mal in das spätere Headquarter von New Berlin ein.

War das Zufall? Oder hat mich irgend etwas gelenkt?! Wäre ich jedenfalls an diesem Laden einfach vorbei geschritten, gäbe es New Berlin nicht.

Ich öffnete die Tür stand in diesem Raum, der wirklich so zu geräumt war, dass ich fast Angst hatte, ich könne etwas umwerfen, und mir war so, als sei es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen, hier einfach reinzustiefeln. Es war hier jedenfalls offensichtlich gerade keine Ausstellung, sondern schien eher als Lager von einem Künstler zu sein.

Fast wäre ich schon umgedreht und hätte den Laden verlassen, aber ich hörte ein Geräusch.
Ich rief "Hallo", es öffnete sich eine Tür am Ende des Raumes und ein Typ in orangefarbenen Bademantel stand vor mir.
"Ähm, ist hier geöffnet!?"fragte ich etwas verlegen, bemüht die Situation zu retten.
"Öh,.., eigentlich nicht, aber komm doch rein. Willst Du nen Kaffee!?"

Er führte mich in den Hinterraum, der noch viel beeindruckender war als der Vorderraum. Eine klitzekleine "funky"Raumkapsel vollgepackt mit alten Monitoren, Spiegelkugeln, Lichterketten und jede Menge Krimskrams; düster aber irgendwie auch richtig gemütlich und kultig. Am Ende des Raumes war eine kleiner Tresen, sodass es eigentlich wie eine kleine Bar aussah.

Jan, so hatte er sich mir vorgestellt verschwand hinter dem Tresen und widmete sich der Kaffeemaschine, genauso wie er es auch heute noch immer tut, wenn wir Besuch bekommen.

Und, eine von den Sachen, für die wir berühmt sind, ist sicher der gute Kaffee.
Kaffee kochen ist bei uns seit jeher Chefsache und selten traut sich jemand anders als Jan an die Maschine.

wir begannen zu smalltalken, ich erzählte von meiner Leere die mich gerade durchfuhr, da sagte Jan:

"Dann werde doch einfach Arzt in Second Life!"

Natürlich hatte ich als absoluter Netz-Depp noch nie etwas von Second Life gehört. Internet benutzte ich nur zum Email schreiben und ein bisschen rumsurfen, vielmehr hätte mein 56k Modem eh nicht zugelassen. Und ich glaube, die einzige Software welche ich zu jenem Zeitpunkt einigermassen regelmäßig benutzte (und auch nur im Ansatz beherrschte) war Microsoft Word.

Jan begann von dieser "virtuellen 3D-Welt" zu erzählen, bei der er sich vor einigen Wochen angemeldet hatte und in der man völlig frei alles erschaffen könne.
Auf dem Tresen lagen diverse Ausdrucke von Unterlagen, Skizzen, Fotos und technischen Daten zum Berliner Fernsehturm.

Jan erzählte weiter von einem Wettbwerb eines amerikanischen Unternehmens, wo man eine Geschäftsidee für diese Pixelwelt einreichen konnte und dabei eine sogenante "Insel", das ist ein Planquadrat virtuellen Landes, 256x256 Meter groß, zur anschließenden Umsetzung der eingereichten Idee gewinnen konnte.

Wir überlegten was man dort machen könnte; die Schwarzweiss-Ausdrucke des Fernsehturms vor der Nase, na klar: man könnte doch Berlin in diesem Second Life nachbauen!!

Da wäre allerdings ein Haken, meinte Jan, man müsse einen "Businessplan" schreiben und die Abgabefrist wäre am 20. Dezember, also in genau 2 Wochen.
"Gut, dann lass uns anfangen" sagte ich, und plötzlich sassen 2 Typen, die sich seit gerade mal einer halben Stunde kannten hinter einem altersschwachen Aldi-Laptop und tippten "New Berlin" in ein leeres Textdokument.

7. Dezember 2006-The Edelman & ESC Business Plan Contest-


Einer der Triebfedern New Berlin zu starten war besagter Business Plan Wettbewerb, ausgerichtet von der Electric Sheep Company (kurz ESC oder in der Szene einfach nur die "Sheeps" genannt), sowie dem PR Imperium von Edelman.

Hier ein Ausschnitt aus dem Artikel im Metaverse Messenger, eine Zeitung rund um Second Life im PDf-Format:
The Electric Sheep Company, one of the more prominent development companies in Second Life, announced on Nov. 13 that the ESC, in conjunction with Edelman, the world’s largest independent global Public Relations firm, is sponsoring the Second Life Business Plan Contest. The announcement on the ESC blog page said, “In an effort to foster entrepreneurialism within Second Life, Edelman and The Electric Sheep Company are teaming up to sponsor a Second Life Business Plan competition. “Have you dreamt of that great idea but lacked the resources to get it off the ground? Now may be your chance. Over the next few months, we will be accepting business plan entries, and the winner of the contest can gain sole access to a Second Life private island for 6 months, as well as L$350,000 seed money, and strategic guidance from Edelman and The Electric Sheep Company. Two runners-up can win L$100,000.” Further information indicates that business plans submitted should be no more than 2,000 words, and will be evaluated by an experienced panel. The deadline for entries is Dec. 20., and the awards ceremony to announce the winner is scheduled for Jan. 26 week. ESC’s Chief Operating Officer Jonah Gold, known in-world as Hank Hoodoo, explained how the decision to hold the contest was made, saying, “It came about in our discussions with Edelman… they were really looking to do something that was more than just a presence in SL. Not so much about announcing themselves, as about doing things that actually give something to the community, and with a specific interest in the really quickly growing business community in SL. So it was kind of a natural thing, just because no one else was doing it... find a way to fund people’s business ideas.” (Kompletter Artikel hier auf Seite 17 der Ausgabe.)

So begannen wir also unseren "Businessplan" zu schreiben, wobei wir zu dem Zeitpunkt natürlch keine Ahnung hatten, wie so etwas auszusehen hat. Es sollte wohl einer der schrägsten Businesspläne werden, der je geschrieben wurde... hier die ersten Zeilen von der ältesten noch existieren Rohversion vom 7. Dezember 2006:

Mitte Dezember 2006 Auf der Suche nach einem Namen und einer Domain

Sehr früh begannen wir uns Gedanken über eine mögliche Internetadresse für unser New Berlin Projekt zu machen. Alle denkbaren Domains, die irgendwie mit "New Berlin" in Zusammenhang gestanden hätten war belegt, allein schon aus dem Grund, dass es in amerikanische 5 Gemeinden mit dem Namen New Berlin gibt: in den Bundesstaaten Pennsylvania, Illinois,Wisconsin, Texas und NewYork.
Also musste etwas anderes her, wir experimentierten mit Namen wie "New Space", "Neo World" und "Metaversum". Letztere Domain, www.metaversum.com war zu jenem Zeitpunkt zwar reserviert, aber noch ohne Inhalt. Wir haben sogar eine Mail an den Webmaster geschrieben, ob diese Domain eventuell zum Verkauf stünde. Erst Monate später sollten wir erfahren, wer & was sich hinter dieser Domain verbirgt.

17. Dezember 2006- YOUseeMEin3D.com

Endlich!! Ein Name war gefunden, unter dem wir arbeiten wollten: You see me in 3D (Du siehst mich in 3D). Die Domain www.youseemein3d.com war frei und wurde sofort gekauft.

Der Name geht übrigens auf ein Lied von der englischen Band "Bomb the Bass" zurrück. Der Track "You See Me In 3D" erschien 1991 auf dem Album "Unknown Territory".

Schon damals benutzten wir die zusammengezogene Schreibweise, wobei jeweils abwechselnd ein Wort groß bzw. klein geschrieben wird: YOUseeMEin3D.com

Dieser Name (so wohlklingend und beschreibend er auch war) hatte einen Haken: wann immer man sich mit "Guten Tag, ich bin von jusimiinsrididotkomm vorstellte, war die Antwort "Ähh,..., was bitte!?!".

19. Dezember 2006- Business Plan fertig gestellt !!

Hier zu sehen das Deckblatt des 21-seitigen Businessplans. Darauf stand:
YOUseeMEin3D
presens:
NEW BERLIN
the Second life
ultimate_mashup_web_3.D_project
a multiverse realisation concept

Der 1. Absatz lautete folgendermassen:
Second life IS a virtual world.
OK, it seems to work, economy and citizens are
growing.
Everybody feels the potential and the spirit.
Super hot hackers, developers, systemlovers and nerds
are pushing the edge of web3D.
We all talk about a conjunction of real and virtual
worlds, but why is nobody doing it right now?
We know how we can start it without big costs and
almost no development, just with a map of Berlin.
We want to structually virtualize the real city of
Berlin.
Businesspläne sind natürlich immer "Betriebsgeheimnisse", darum können und wollen wir ihn nicht komplett veröffentlichen. Vieles, was wir damals an Ideen aufgelistet hatten, haben sich mittlerweile als "nicht umsetzbar", "Zeit ist noch nicht reif" oder "vom User nicht gewollt" herauskristallisiert. Dennoch dient uns auch heute noch dieses 1. Dokument als "Ideensteinbruch" und der eine oder andere Ansatz wartet noch auf seine Umsetzung.

Schön zu lesen und nun wirklich nicht geheim sind die "About us" Texte von Jan und mir.
Jan´s Introducion:
I started thinking of/in systems when i was 13.Later, bored in visual math class, I built a central perspective 3D-model of a 4D “hypercubus” out of the pieces of a carrot and thin steel whire. I didn´t know this thing already existed. With 20 in south Italy on a black rocky beach, I had the vision of a X-dimension dynamic picture archive system, which orders itself while navigating through a fractalized endless 3D-zooming_picture_mass. I wanted to base it on the physical circumstances of the picture itself. Geotagging, combined with all the available exif_data, and aditional exif_gps_data, wich I wanted to develop. Still, I couldn´t make it clear to anybody what I was thinking of.
In the year 2000 I started to study industrial design. One year later I used the unique possibility I had in Kassel(Germany) to study “system design”. At the same time my “hobby” fine art became serious, and so I finished university with a “free artist and system design” degree.
With 25 I gave up finding technical support for my real_3D_screen_cube.
Within 3 Years I imagined a couple of ways to materialize a massive (x,y,z) coloring cube, and the resulting Operation System.
In art I saw a fast and creative way to develop and test the reality and its systems. Now, I am bored of making art and want to get back to my roots, and follow my interests for visualisation and designing of systems. So I met SL.

Tobias´Introducion:
After highschool I trained to be a male nurse. Afterwards I worked for 2 years in a hospital, at the end of which i had the position of a male staff nurse. In the year 2000 I starded studying medicine. I graduaded from university in may 2006 as a physician.I am not practicing, currently I am planning to work part time on a dissertation about Radiofrequenced Cancer Therapy, so called “Hyperthermia”.
Even if I´m a child of the ATARI-generation and I already did some programming in BASIC on the 1st-generation-homecomputers in the middle of the 80ies, I am only partly into computers.
Multiplayer online games? Not interested. Second Life? Never heard anything about it before two weeks ago.
So, what the hell brings me to a project like „New Berlin“?
Is it the diagnostic view of a physician!? The capacity to understand complex situations quickly and bring it to the point!? The analytic way of thinking!?
Yes, these are the things that make me see the enormous potential in SL, New Berlin and YOUseeMEin3D.com.
Is it because physicians never give up even if the case might be hopeless!? Never stand still, always reevaluate and look for better solutions!?
Yes again,and that’s why I´m in it and have the power to do it.
Next aspect:
First thing I do when I´m visiting a new city I have never been to before: I get a map of the city, spread it on the table and study it for at least one hour. I love maps. They tell you nearly everything. I read in it to the get to know the appearance, the voice and the heartbeat of the city. Cities are organic, living structures and maps are something like high-resolution photoprints of them. So, what did I do first, when I entered SL!? I looked at the map. And what did I see with my diagnostic eye!?
Nothing.
The SL-map is the most nonspeaking map I ever saw.

It was like trying to feel the pulse of a robot!
And why do all the Avatars run around like madmen!?
Why is the most FAQ “What is SL about!?”
So, time to consult the doctor, here is the cure:
Let New Berlin go!

Hinter unsere Vorstellungstexte fügten wir noch einen weiteren Absatz ein:
You wanted to know why we are the ones who get it
done?
Because we did it in 2 weeks.
We started working on this vision on December.6 2006
So please do not judge us by our avatars,
our unconventional concept, or the progress in
virtual visualisation.
For us, this is just the beginning...

Anfang 2007- Recherche und Testläufe

Wir begannen, uns intensiv in Second Life einzuarbeiten. Einerseits recherchierten wir in Second Life nach einem "Berlin" oder Stadtmodellen im allgemeinen.
Wir merkten schnell, das niemand so "verrückt" war, eine Stadt maßstabsgetreu, also 1Meter in der Realität=1 Meter in Second Life, nachzubauen. Vielmehr gab es nach Städten benannte Landstriche, die Stilelemente oder grobe Nachbauten von realen Gebäuden darstellten. ich nannte das immer den "Disneyland-Stil", wo in der Germany-Ecke ein Mini-Brandenburger Tor neben dem Hofbräuhaus steht. Das war aber nicht was uns vorschwebte. Wir wollten nicht nur eine Assoziation wecken, sondern eine Deckungsgleichheit erzielen.

Eine andere Frage musste auch geklärt werden, nämlich die technische Umsetzung. Der Mittelpunkt unserer Stadt sollte der Berliner Fernsehturm sein. Konnte man ein 386 Meter hohes Gebäude in Second Life nachbauen?!

Wir angagierten einen ersten Builder, also jemand, der geübt ist in dem Umgang mit dem in Second Life integrierten Bau-Tool und Gegenstände, Objekt oder gar Gebäude erstellen vermag.
Um uns über die Arbeitsweisen, die Geschwindigkeit und den Look eines in Second Life nachgebauten Gebäude ein Bild zu machen, beauftragten wir "Nebo" zum Bau eines Fernsehturmes im Maßstab 1:10.

wir waren damals erstaunt, dass der Turm nach nicht ein mal 2 Tagen fertig gestellt war. Nebenbei haben wir auch mitbekommen, wer hinter dem Avatar "Nebo" steckte: es handelte sich um einen 21-jährigen amerikanischen Army-Soldaten, der von seiner kleinen Bude in der Kaserne aus in die Welt von Second Life eintauchte.

2.Februar- Designing your Second Life



Mehr und mehr rückt das Thema Second Life in die Öffentlichkeit. So fand auch im Rrahmen der Transmediale2007 eine Veranstaltung zum Thema statt:

Designing your Second Life
moderiert von: Peter C. Krell [de] Caspar von Gwinner [de], Anna Krenz [pl/de], Joachim Stein [de], Aram Bartholl [de]
In MMOs (Massively Multi-user Online Worlds) wie Second Life experimentieren gegenwärtig Millionen von Usern mit neuen Formen des Entertainment, mit virtuellen Geschäftsmodellen und kreativen Identitätsmetaphern. Diese Entwicklung ist eine Herausforderung für Spiele-Entwickler und -Aktivisten sowie für Künstler, die auch hier die Welt gegen den Strich bürsten wollen.


Die Veranstaltung war gut besucht, um die 150 Besucher lauschten der Diskussion. Einige der Teilnehmer auf dem Podium, vor allem Aram Bartholl und Joachim Stein, haben wir seit dem immer wieder getroffen und sind fest mit unserer Geschichte verwoben und werden noch öfter hier Erwähnung finden.

17.Februar 2007- Spiegel Titelthema: Der digitale Maskenball



Nun ging es erst richtig Los, spätestens jetzt war Second Life allgegenwärtig, der Hype näherte sich seinem Höhepunkt.
Nachdem wir von irgendwo her informiert wurden, dass "Second Life Titelthema im Spiegel" sei, liefen wir sofort zum nächsten Kiosk und kauften einen ganzen Stapel der Auflage.
Über die Qualität des Artikels lässt sich sicher streiten, und Second Life war auch nicht wirklich gut dabei weggekommen. Viel wichtiger erschien uns in diesem Moment, dass nun das Medium endgültig in der deutschen Bevölkerung angekommen war.

Den kompletten Spiegel Artikel gibt es hier als pdf zu lesen.